22.02.2021 08:49
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Zen im Herzen

von Dieter Wartenweiler

Dieser Winter hat uns nach manchen Jahren wieder einmal Schnee vor die Haustüre gelegt. Das ist im Unterland mittlerweile etwas Besonderes – vorbei die rasanten Schlittenfahrten meiner Kindheit auf der gesperrten Dorfstrasse, vorbei das Eislaufen auf dem alljährlich gefrorenen Dorfweiher.

Das einst Alltägliche ist das Besondere geworden. Auch Corona hat uns die frühere Alltäglichkeit genommen – Einschränkungen prägen unsere Lebensformen, und gar Krankheit und Tod sind durchs Land gezogen. Bewusst wird uns dabei, dass Gesundheit und das Leben selbst das Besondere sind, selbst wenn sie alltäglich erscheinen.

Nun kommt der Frühling, und damit vielleicht auch etwas mehr Freiheit im Pandemie-bestimmten Alltag. Vom japanischen Haiku-Dichter Kobayashi Issa gibt es das schöne Gedicht:

Einfach vertrauend -
Fallen denn die Kirschblüten
Nicht gerade so?

Einfach vertrauend – ist unser Leben nicht gerade so? Wie oft denken wir, dass das Leben anders sein sollte, als es gerade ist. Dass wir wüssten, wie es richtig wäre – und dabei verpassen wir das Leben selbst, denn es ist eben gerade so, wie es ist. In Kobayashis Zeilen klingt der Geist des Zen, der uns erkennen lässt, dass das Alltägliche das Besondere ist. Wieder einmal Schnee auf der Wiese – das Besondere. Frühlingsluft – das Besondere. Kein Schnee mehr auf der Wiese – das Besondere. Und es kann nicht anders sein, als es ist – eben „gerade so“. Das Besondere ist das, was immer ist. Und immer ist dieses Dasein in einer unermesslichen Welt. Zu ihr gehören wir – wir sind sie. Ohne unsere Wahrnehmung – wo ist die Welt? Und andererseits: ohne Welt kann es uns nicht geben.

Die einzige Wirklichkeit ist das, was ist: Wir – die unermessliche Welt. Einmal ist sie so, und einmal anders. „Buddha Sonnengesicht – Buddha Mondgesicht“ antwortet der schwer kranke Grossmeister Ba auf die Frage, wie er sich fühle. Während der sonnengesichtige Buddha eine Lebenszeit von 1800 Jahren hat, lebt der mondgesichtige Buddha nur einen Tag und eine Nacht. Wir wissen nicht, wie lange unser Leben dauert, aber gewiss ist, dass das Leben jetzt gerade alles ist. Es gibt nichts anderes, als dieses eine Dasein, das wir sind, und das jetzt genau so ist, wie es ist. Darin ganz einzutauchen ist die Übung des Zen. Wir sitzen auf dem Zafu (dem japanischen Sitzkissen), gerade so. Manchmal tun uns die Füsse weh, und manchmal der Rücken. Manchmal sind wir von gesammeltem Geist, manchmal weniger. Wir üben das reine Dasein.

Zen ist im Grunde nichts anderes als das Leben selbst. Das Leben in seiner Unergründlichkeit. Wir selbst in unserer Unergründlichkeit. Wir sind uns gewohnt, auf die Erscheinungen des Lebens zu achten, aber weniger auf das Leben selbst, das sich in den verschiedensten Formen zeigt. Jede Form ist erfüllt und damit Ausdruck des reinen Seins, ja das reine Sein selbst. Wir selbst, unser Mitmensch, die Maus auf der Wiese, die ihre Gänge gräbt und vermeintlich den Rasen durcheinander bringt. Sie bringt aber nur unsere Vorstellungen durcheinander, die wir haben. Die Wiese mit den Gräben – gerade so. Das ist alles. Ist das nicht wunderbar?

Zen ist nichts Besonderes. Es ist das Alltägliche. Und dieses Alltägliche ist wunderbar. Wir sind es, wir sehen es, wir tragen es in uns. Zen im Herzen.

Dieter Wartenweiler, Zen-Meister Glassman-Lassalle Zen-Linie

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