18.04.2020 08:47

Spiritual Care im Lassalle-Haus

Die Sorge für die Patientinnen und Patienten bleibt auch angesichts der Covid-19- Pandemie eine ganzheitliche Aufgabe. Am Weltgesundheitstag, der an die Gründung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1948 erinnert, stellt Tobias Karcher SJ das Konzept von Spiritual Care im Lassalle-Haus vor.

Spiritual Care ist kein neumodischer Ausdruck für Krankenhausseelsorge, sondern ein zusammenfassender Begriff für eine Querschnittsaufgabe aller Gesundheitsberufe. Alle, die in Pflege, Medizin und weiteren Heilberufen arbeiten, haben eine spirituelle Basiskompetenz. Alle sind sensibel für spirituelle Wünsche, Bedürfnisse und Krisen kranker Menschen. Und sie brauchen Unterstützung dabei, sensibler zu werden, sensibel zu bleiben. Spirituelle Orientierungen können den Heilungsprozess oder die Krankheitsverarbeitung behindern oder erleichtern. Deswegen erscheint es für die Gesundheitsberufe wesentlich, die spirituellen Orientierungen ihrer Patienten zumindest einschätzen zu können.

Spirituelle Orientierungen können den Heilungsprozess oder die Krankheitsverarbeitung behindern oder erleichtern.

Natürlich soll eine Pflegerin nicht Seelsorgerin werden. Aber wie die Krankenhausseelsorge ein Grundwissen für Medizin benötigt, so wird es den Patienten sehr förderlich sein, wenn die Gesundheitsberufe über ein Grundwissen an Spiritualität verfügen. Wobei Spiritual Care das Ideal einer interprofessionellen Zusammenarbeit von Ärzten, Seelsorgenden und Pflegenden zugrunde liegt, zum Wohl des Kranken. Insbesondere geht es darum, kranke Menschen dabei zu unterstützen, Spiritualität als Kraftquelle zu erfahren und zu nutzen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Spiritualität umfassend verstanden wird und nicht eingeengt auf die Zugehörigkeit zu einer Konfession oder Religion. Wenn jemand sagt, dass er keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft angehöre, heisst dies nicht unbedingt, dass er nicht spirituell ist. Vielmehr lebt er seine Spiritualität ohne Religiosität oder sie ist ihm nicht wichtig.

Spiritualität als Kraftquelle

Diesem weiten Begriff von Spiritualität entsprechen die sich verändernden Perspektiven der Gesundheitswissenschaften. Neben den «objektiven» Lebensbedingungen rückt immer stärker das «subjektive» Wohlbefinden in den Vordergrund. An Stelle von Defizitorientierung tritt Ressourcenorientierung. Als mögliche personale Ressourcen werden Lebenszufriedenheit, Sinnerfüllung sowie säkular oder religiös motivierte Bewältigungsformen (coping-strategien) für Prävention und Bewältigung von Erkrankungen erkannt. Der Patient steht als Person im Mittelpunkt des Handelns. Heilung heisst nicht einfach «Beseitigung von Krankheit», sondern die Ermöglichung eines als subjektiv sinnvoll erfahrenen Lebens. Spiritualität wird in diesem Kontext zu einer prinzipiell individualistischen Kategorie. Je nachdem, ob Spiritualität in der individuellen Lebenswelt des Patienten bedeutsam ist, oder nicht, kommt der Berücksichtigung seiner spirituellen Bedürfnisse eine wichtige Funktion im gesamten Betreuungskonzept zu. «Spiritualität ist genau – und ausschliesslich – das was, der Patient dafürhält» (Traugott Roser, s.u.).

Verschiebung des Fokus vom Individuum hin zur Institution

Wenn wir kurz in die Geschichte schauen, so finden wir in der vorklassischen griechischen Zeit eine Durchdringung des religiösen und des ärztlich medizinischen Bereichs. Wer krank war, konnte in einen Asklepios-Tempel gehen, um sich dort mit dem Heilschlaf behandeln zu lassen und im Traum dem Gott Asklepios begegnen. Doch dann entwickelte sich neben dieser Tempelmedizin die wissenschaftlich, empirische Medizin der Ärzte. Mit dem klassischen hypokratischen Eid im vierten vorchristlichen Jahrhundert wurden dann die Bereiche Religion und Gesundheit getrennt. Zwar gingen Pflegeorden, medizinisch-karitative und kirchliche Institutionen in der Spätantike, im Mittelalter bis in die Neuzeit von einem integrierten Weltbild aus. Doch ist diese hypokratische Scheidung für unsere westliche Kultur bestimmend. Erst im 20. Jahrhundert entsteht ein neues spirituelles Interesse. Mitten im Gesundheitsbereich entsteht eine spirituelle Suche, entsteht Forschung über Spiritualität und ihre Auswirkungen auf einen Relief des Jesuiten und Zen-Lehrers Hugo Enomiya Lassalle Genesungsprozess. Eine wichtige Inspiratorin war sicher Cicely Saunders (1918 – 2005), Schmerztherapeutin und Begründerin der Hospizbewegung, die neben der physischen, psychischen und sozialen auch eine spirituelle Seite des Schmerzes benennt. Dann hat die Charta von Bangkok der WHO, 2005, darauf aufmerksam gemacht, dass die Sorge für den kranken Menschen neben der physischen und psycho-sozialen auch eine spirituelle Dimension umfasst.

Schwerpunkt Medizin und Spiritualität

Seit über 10 Jahren ist der Schwerpunkt Medizin und Spiritualität Teil des Bildungsprogramms des Lassalle-Hauses. Sein Lehrgang „Spiritual Care“ richtet sich an Professionelle in den Gesundheitsberufen wie Medizin, Pflege, Seelsorge, Psychotherapie, soziale/pädagogische Arbeit und Tätige mit Entwicklungspotenzial für Spiritual Care. Die Lehrgangsteilnehmenden eignen sich vertiefte Kenntnisse an zu spirituellen Aspekten des menschlichen Lebens und setzen sich aktiv mit dem Begriff Spiritualität in unterschiedlichen Traditionen und Wissenschaften auseinander. Die christliche Verortung des Lassalle-Haus sowie seine interreligiöse Kompetenz bietet hier die Möglichkeit, diese unterschiedlichen Traditionen kennenzulernen und zu reflektieren. Die Teilnehmenden üben sich in der Selbstwahrnehmung, im Austausch mit anderen, in der interprofessionellen Kommunikation, in der Reflexion der eigenen spirituellen Praxis sowie in der Erörterung von Sinn und Existenzfragen. Sie lernen Landkarten und Konzepte zur Integration der spirituellen Dimension in Gesundheitsorganisationen kennen. Anhand eigener Praxisfragen entwickeln sie ihre Handlungskompetenzen im Planen, Lenken und Implementieren von Spiritual Care in der Organisation.

Erörterung von Sinn- und Existenzfragen

Die Entfaltung der Persönlichkeit ist ein integraler Bestandteil des Lehrgangs Spiritual Care. Dazu bietet das Lassalle-Haus einen Ort der Stille für den eigenen spirituellen Weg mit qualifizierter Begleitung. Eine lebendige und den Patientinnen und Patienten dienende Spiritual Care Praxis ist vom Individuum erfahren, reflektiert und vom eigenen Lebensentwurf getragen.

Nun ist das Lassalle-Haus schon seit über einem Jahrzehnt aktiv im Bereich Spiritual Care. Welche Themen haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen? Eckhard Frick SJ, der gemeinsam mit Traugott Roser die erste Professur für Spiritual Care an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne hatte und im Lassalle-Haus diesen Lehrgang mit initiierte, nennt die Verschiebung des Fokus vom Individuum hin zur Institution. Es reiche nicht aus, einzelne Menschen auszubilden und sie dann in und mit ihrer Institution alleine zu lassen. Ein weiterer Punkt ist die Sorge für die Sorgenden. Ursprünglich wurde Spiritual Care analog zu einer Behandlung gesehen, zu einer Unterstützung, die dem kranken Menschen zugutekommt. Heute wird deutlich, dass die Sorge für die Sorgenden ebenso wichtig ist. Die Auffassung von Care hat sich verschoben in Richtung Formung von Persönlichkeit. Spiritualität gehört ebenso zu Personalentwicklung, zur Bindung an eine Organisation und zur beruflichen Biographie.

Abschliessen möchte ich mit dem Beispiel einer Hausärztin, die an einem Kurs der spirituellen Anamnese teilnahm. Sie erzählte von einem Gespräch, in dem sie der Patientin sagte, es wären ja nun alle Untersuchungen gemacht, alles sei in Ordnung, der Behandlungsplan liege fest und sie könne in wenigen Monaten wiederkommen. Sie wollte das Gespräch beenden, sich verabschieden. Dann erinnerte sie sich an den Spiritual Care Kurs und sagte zur Patientin: „Aber so richtig gut geht es Ihnen nicht, oder“? Dieser kleine Satz löste eine heftige Emotion bei der Patientin aus. Sie konnte Tränen vergiessen, weil sie sich verstanden fühlte. Das Beispiel mag unspektakulär klingen. Doch zeigt es die Chance auf, wo Spiritual Care den ganzen Menschen in den Blick nimmt.

Tobias Karcher SJ

Der Artikel ist auf feinschwarz.net publiziert worden

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