17.06.2019 11:51

Interview mit Religionswissenschaftler Prof. Dr. Andreas Nehring

«Yoga ist eine Bezeichnung für die Praxis, wie man Befreiung des Selbst erlangen kann.»

Prof. Dr. Andreas Nehring doziert im Lassalle-Haus im Rahmen des Lehrgangs «Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess» zum Thema Hinduismus. Er lehrt seit April 2006 Religions- und Missionswissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Von Oktober 2013 bis September 2014 forschte er als Fellow am Internationalen Kolleg für geisteswissenschaftliche Forschung: „Schicksal, Freiheit und Prognose“ der FAU.

Woher kommt der Begriff Hinduismus?
Der Begriff Hinduismus kommt ursprünglich aus dem Persischen und bezeichnet «diejenigen, die hinter dem Fluss Sindhu (Indus) wohnen“. Von den Muslimen wurde damals die nationale Identität mit der religiösen gleichgesetzt. Heute gibt es aber in Indien viele Bewegungen, die den Hinduismus als Religion beschreiben, insbesondere auch als Abgrenzung gegenüber den Christen und Muslimen. Ein Begriff, den man gerade von gebildeten Hindus immer wieder hört ist «Sanatana Dharma», was so viel bedeutet wie „das ewige Gesetz“ resp. „die ewige Religion“. Damit möchte man auch zum Ausdruck bringen, dass es sich beim Hinduismus eigentlich um die älteste Religion handelt.

Wie alt ist denn die hinduistische Religion?
Die Historiker gehen davon aus, dass um 1500 v.Ch. Einwanderer aus dem zentralasiatischen Kaukasus nach Indien gekommen sind und dass sich da eine vedische Religion herausgebildet hat. Wir haben Texte, die Veden, welche basierend auf den Erkenntnissen der Historiker um 1200 v.Ch. entstanden sind. In Indien neigt man aber dazu, diese Veden viel älter einzuschätzen. Und es gibt in Indien auch zahlreiche Stimmen, die argumentieren, dass der Hinduismus genuin in Indien entstanden sei und die eine Einwanderungs- oder Eroberungshypothese ablehnen.

Können Sie uns kurz einen Überblick zur Religion des Hinduismus machen?
Man kann grundsätzlich unterscheiden zwischen dem brahmanischen Hinduismus und volksreligiösen Formen des Hinduismus. Der brahmanische Hinduismus hat sich über ganz Indien verbreitet und wurde durch die Brahmanen als Priester vertreten. Diese haben sich in unterschiedliche Schulen, Sekten und Religionsgemeinschaften unterteilt. So gibt es die beiden Grossreligionen der Vishnuiten und Shivaiten, die fast schon in Richtung monotheistischer Religionen tendieren, obwohl es da aber auch Nebengötter gibt. Des Weiteren gibt es eine grosse Anzahl an volksreligiösen Formen, die sich in den Dörfern manifestiert haben und nur regional eine Rolle gespielt haben. In denen wurden ganze andere Götter verehrt. Im Laufe der Geschichte hat sich ein Prozess entwickelt, in dem diese volksreligiösen Formen in den brahmanischen Hinduismus integriert wurden. Das nennt man in der Soziologie Sanskritisierung und gemeint ist damit die Aufnahme dieser lokalen Religionsformen in die Sanskritkultur. Daneben entwickelte sich eine ganze Menge an gestifteten Religionen, welche sich auf einen Guru konzentrieren. Diese Bewegungen berufen sich auf die eigenen Schriften der Meister. Gerade in der Neuzeit gibt es eine grosse Anzahl von sogenannten Gurubewegungen.

Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen dem Hinduismus und dem Buddhismus?
Es gibt einige Forscher, die sagen, dass die hinduistische Advaita-Philosophie stark geprägt ist vom Buddhismus. Die grobe Unterscheidung, die immer wieder gemacht wird, ist, dass in der Advaita-Philosophie der Atman resp. das Selbst als absolut betrachtet wird. Dem gegenüber ist in der buddhistischen Philosophie wiederum der „Nicht-Ich“ Gedanke, der sogenannte An-atman, zentral. Dabei geht es in der buddhistischen Tradition um die Erkenntnis, dass ein sogenanntes festes Selbst, das man identifizieren kann, nicht existiert. Die Advaita-Philosophie hat dagegen argumentiert. Einer der einflussreichsten Vertreter der Advaita-Philosophie im 9. Jahrhundert war Śankara, der letztlich auch mitverantwortlich war, dass der Buddhismus in Indien wesentlich zurückgedrängt wurde und heute nicht mehr so stark vertreten ist.

Inwiefern gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem Hinduismus und dem Christentum?
Als Religionswissenschaftler bin ich sehr vorsichtig mit zu schnellen Vergleichen, weil man ja bei solchen Vergleichen von der kulturellen Tradition und der historischen Entwicklung abstrahieren muss. Tatsächlich ist es aber so, dass indische Theologen immer wieder das Christentum mit Ausrichtungen des Hinduismus verglichen haben. Um letztlich auch zu zeigen, dass die indische Religion strukturell eine zum Christentum vergleichbare Glaubensform hat und über ähnlichen religiösen Erfahrungen sprechen kann, wie z.B. bei den Krishna-Bhaktas (Krishna Verehrer). Die sogenannten Bhakti-Bewegungen, die mit frommer Hingabe eine Gottheit verehren, sind sehr stark vertreten. Diese Bhakti-Frömmigkeit spielt im gelebten Hinduismus auch heute noch eine entscheidende Rolle und wird immer wieder mit der christlichen Frömmigkeit und Gnadenlehre verglichen.

Yoga ist für uns im Westen ein zentraler Begriff der indischen Lebensweise. Wie muss man Yoga im Hinduismus einordnen?
Es werden viele Richtungen innerhalb des Hinduismus als Yoga dargelegt. Yoga ist eine Bezeichnung dafür, wie man Befreiung des Selbst aus den karmischen Verwicklungen erlangen kann. So gibt es konkrete Formen zum Beispiel in den Yoga Sutren des Patanjali, in denen ein klarer Weg aufgezeichnet wird. Im Grunde ist Yoga der Weg und damit die praktische Umsetzung der indischen Samkhya Philosophie. Meines Wissens nach wurde traditionellerweise das Yoga wie wir es im Westen kennen, früher in Indien nur von einer kleinen Gruppe tatsächlich praktiziert. Es gibt bei uns ein westliches Stereotyp, dass in Indien jeder Yoga praktiziert. Was man heute feststellen kann, ist eine neue starke Yogabewegung in Indien. In den letzten Jahren wurden viele Schulen gegründet, vielfach von Diaspora-Hindus, aber auch von Amerikanern oder Europäern. Man kann so was wie einen Pizza-Effekt beobachten. Das, was in den Westen exportiert worden ist, findet in einer neuen Art und Weise wieder zurück nach Indien.

Was hat es mit dem Kastensystem heute auf sich?
Das Kastensystem ist offiziell in der Verfassung nicht mehr verankert, es gibt danach keine Kastenunterschiede. Aber im realen Leben spielt es meines Erachtens immer noch eine ganz zentrale Rolle, gerade im Privat- und Familienleben. In den Städten wird es wohl am Arbeitsplatz an Bedeutung verlieren, wo die Kompetenzen der Arbeitnehmer zunehmend wichtiger werden als ihre Herkunft. Auf dem Land hingegen hat das Kastensystem immer noch grosse Bedeutung. Auch haben Kastenkonflikte, die man auch früher beobachten konnte, in den letzten Jahren stark zugenommen. Die sogenannten Dalits (die Unberührbaren) wehren sich massiv gegen die Kastendiskriminierung und da gibt es praktisch täglich fundamentale Konflikte.

Ist das Kastensystem so alt wie der Hinduismus?
Dies ist eine schwierige Frage und wohl kaum zu beantworten. Es gibt immer wieder eine grundsätzliche Diskussion, ob es beim Kastensystem um eine religiöse oder eine soziale Ordnung handelt. Ich persönlich würde sagen, es ist eine Mischung von beidem. Es gibt im Rig Veda, einer der ältesten Schriften, einige Verse, die darauf hindeuten, dass das Kastensystem da schon angelegt ist. Es wird von einem grossen kosmischen Opfer gesprochen - einem Urmenschen. Dessen Körperteile werden aufgeteilt und nach vier Kasten (Varnas) zugeordnet. Dies hat sich als brahmanische Ideologie entwickelt. Dabei spielen aber im Leben der Inder die Jatis eine viel wichtigere Rolle. Jatis werden oft als Unterkasten bezeichnet. Aber das stimmt so nicht, da es sich um eigenständige gesellschaftliche Gruppen handelt, von denen es sehr viele gibt und diese regional sehr unterschiedlich sind. In diesen Jatis gibt es wiederum Clans und Grossfamilien in Indien und diese bilden die soziale Dimension des Kastensystems, welche je nach Region aber ganz unterschiedlich funktioniert. Darüber hat sich gewissermassen der brahmanische Hinduismus gelegt, so dass sich die Brahmanen als führende Kasten stark etablieren konnten. Es gibt auch Regionen, in denen verschiedene Gruppen diese brahmanischen Kastenstuktur ablehnen und nicht akzeptieren. Letztlich ist das Kastensystem mit der Entwicklung des Hinduismus aber so stark verbunden, so dass man es beinahe nicht mehr voneinander trennen kann.

Was ist Ihnen in der Vermittlung des Hinduismus innerhalb unseres Lehrgangs wichtig?
Viele Leute fühlen sich heute von bestimmten Formen der Praktiken und Spiritualität des Hinduismus angezogen und können dies auch gut in ihr spirituelles Leben integrieren. Als Religionswissenschaftler ist es mir wichtig, dass die Teilnehmer die Vielfalt innerhalb des Hinduismus erkennen. Ich möchte aber auch aufzeigen, dass unsere Wahrnehmung und Vorstellung vom Hinduismus teilweise einseitig sind. So ist zum Beispiel Indien stark vom Kolonialismus und der wissenschaftlichen Sichtweise aus dem Westen geprägt worden. Ich werde auch auf Formen des fundamentalistischen und radikalen Hinduismus eingehen, der heute insbesondere antichristliche und antimuslimische Züge angenommen hat. Es ist mir für die Teilnehmenden wichtig, dass man nicht in die etablierten Stereotype hineingerät, der Hinduismus sei hauptsächlich tolerant und friedfertig, wogegen die monotheistischen Religionen zu Exklusivismus und Gewalt tendieren. Ich glaube, das ist zu einseitig und das möchte ich ein bisschen aufbrechen.

Wir müssen uns heute klarmachen, dass unser Religionsbegriff – so wie wir ihn heute verstehen - sich erst in den letzten Jahrhunderten ausgebildet hat. Interessanterweise ist dieses westliche-christliche Religionskonzept dann in andere Kontexte exportiert worden und so hat dieser eben auch das Selbstverständnis anderer Religionen mitgeprägt. Ich möchte im Lehrgang auch aufzeigen, wie der westliche Religionsbegriff die Selbstkonzeption von Hindus verändert hat.

 

Universitätslehrgang "Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess"
Der nächste Lehrgang startet im Oktober 2021. Details finden Sie hier.

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