20.08.2015 09:01

Die Freuden der Einsamkeit

Einsamkeit verbinden wir meist mit negativen Gefühlszuständen. Sie gehört jedoch zu den Grunderfahrungen des Lebens. Einsamkeit kann selbst gewählt sein und Raum für Kreativität bieten oder als qualvoll und erzwungen erlebt werden. In der Praxis meiner Geistlichen Begleitung begegnen mir Menschen, die unter ihrer Einsamkeit leiden und Menschen, die darunter leiden, dass sie keinem Raum für Einsamkeit haben. Der Mystiker Rabindranath Tagore drückt diese Erfahrungen in den Worten aus: „Allein sein zu müssen, ist schwer – allein sein zu können, ist schön.“ Dass die Erfahrung von Einsamkeit existentiell zu einem spirituellen Leben dazugehört, zeigt uns der Blick in die Bibel. In der christlichen Tradition sind die Experten der Einsamkeit die sogenannten Wüstenväter oder Eremiten. Die Wüstenväter haben schon im dritten und vierten Jahrhundert in Ägypten und Syrien die Gesellschaft verlassen und sind freiwillig an die Ränder der Städte in die Wüste gegangen. Die Wüste ist im biblischen Kontext ein Ort der Gottesnähe, der Versuchung, Prüfung, Treue und Bewährung. Auf sich selbst zurückgeworfen, lernten die Wüstenväter mit sich selbst auszukommen und bei sich zu sein. Was sie erfahren haben, gilt auch heute noch: Es braucht Schweigen, Stille, Ruhe und Phasen der Einsamkeit, um zu sich zu kommen. Wenn wir zum tiefsten Grund unserer Existenz gelangen, erfahren wir uns als gehalten und bedingungslos geliebt. Wir gewinnen daraus eine innere Freiheit und es wachsen die Kraft und das Vertrauen, der Fülle des Lebens täglich neu und in Dankbarkeit zu begegnen.

In der Geistlichen Begleitung erlebe ich oft Menschen, die so in Beruf und Familie eingebunden sind, dass sie keine Zeit für sich haben. Mansche Menschen müssen lernen, auch einmal „nein“ zu sagen, um sich ihre kleinen Einsamkeiten im Alltag zu gönnen. „Der Wert der Einsamkeit besteht in der Möglichkeit einer höheren Aufmerksamkeit“.

Die Fähigkeit zur Einsamkeit können wir erlernen und eine Geistliche Begleitung kann dazu beitragen, dass wir uns in unserer Einsamkeit nicht einschliessen, sondern offen bleiben für andere Menschen und offen dafür, dass es etwas gibt, das uns übersteigt, offen bleiben für die Sehnsucht, die in uns liegt.

Elisabeth Fink-Schneider

Dieser Text ist ein Auszug aus einem umfangreicheren Artikel, der unter dem Titel „Meiner Einsamkeit begegnen – Einsamkeit und Geistliche Begleitung“ in der Zeitschrift „Meditation“ 2/15 erschienen ist.

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